Anekdotisch Evident

Kultur und Wissenschaft durchs Prisma der Plauderei

Leiden

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„Leben ist Leiden.“ Diese lakonische Weisheit stammt vom Buddha, der heute die Verpackungen von Wellness-Tee ziert. Leiden erscheint heute als Relikt einer vergangenen Zeit, die noch keine Achtsamkeitsübungen und Dankbarkeitstagebücher kannte. Der Fortschrittsgedanke war stets vom Wunsch getragen, menschliches Leiden zu begrenzen. Sollte es irgendwann möglich sein, das Leiden ganz abzuschaffen? Und wäre das ein wünschenswerter Zustand? Wir haben uns in dieser Folge mit der Frage befasst, was Schmerz für unser Menschsein eigentlich bedeutet.

Links und Hintergründe

11 Kommentare

  1. Hach wie immer eine tolle Folge! Vielen Dank liebe Alexandra und liebe Katrin, dass ihr euch diesem Thema angenommen habt. Ich sag’s euch, ich hab richtig ein bisschen Lust auf meine nächste „Leidensphase“ bekommen! ;-D

    Ein Punkt gab es, an dem ich andere Erfahrungen gemacht habe. Alexandra sagte mehrmals, dass sich die Achtsamkeitsbewegung für sie nach etwas anfühlt, dass das Leid aus unserem Alltag vertreiben mag. Aber geht es nicht gerade bei der Achtsamkeit darum das anzunehmen was ist? Egal ob vermeintlich gut oder schlecht? Ich für mich habe durch die Beschäftigung mit Achtsamkeit gelernt mehr mit dem zu sein, was gerade da ist. Auch wenn es sich vllt nicht so gut anfühlt. Es hilft mit dem Impuls zu widerstehen gleich in eine korrigierenden Handlung zu gehen. Zumindest habe ich die Achtsamkeit für mich so erlebt. Aber die Angebote dafür sind wahrscheinlich mannigfaltig..

    Ganz liebe Grüße zu euch! Und danke!!

    Luisa

    • Hallo Luisa! Ja, du hast natürlich Recht. Wer Achtsamkeit ernst nimmt, der wird genau diese Erfahrung machen: Schmerz wirklich anzunehmen bedeutet ja keineswegs, ihn zu ignorieren oder so zu tun als wäre er „ganz toll“, sondern tatsächlich zu akzeptieren, dass es sich scheiße anfühlt und man eben nichts gegen ihn tun kann, so wie man auch keinen Einfluss auf das Gewitter draußen hat. Ich bin auch überzeugt davon, dass Meditation und Achtsamkeit uns wahrlich befreien können – nicht vom Leiden, aber von dem Druck, ohne Leid sein zu müssen. Was ich hier kritisiere ist, wie so oft, die Verflachung dieser radikalen Ideen durch den Kapitalismus. Da entsteht für mich einfach ein „Geflimmer“, wo es wieder nur darum geht, durch den Kauf bestimmter Apps, Produkte und Leistungen sich selbst zu optimieren. Leider passiert so etwas immer, sobald Ideen popularisiert und kapitalisiert werden. Sie verlieren ihren Impact und werden zu leeren Hülsen. Ja, ich glaube das ist es, was mich so bedrückt.

  2. Zunächst einmal etwas, was mir bei den Content Warnungen eingefallen ist, nämlich ein Podcast, wo man das auch aus Sicht auch von Psychologen geschildert bekommt: https://www.psycho-talk.de/2019/01/21/psyt034-content-warnung-warnung/
    Das andere war, dass man im Falle einer Erkrankung von seinen Freunden weniger kontaktiert wird, weil sie vermeiden wollen, mit Leid konfrontiert zu werden.
    Ist dies wirklich die gesamte und ausreichende Erklärung? Ich habe nämlich das Gefühl, dass sie nicht ausreicht, aber ich habe leider keine Idee, was ausreichend wäre.

  3. Ich habe eine andere christliche Botschaft verinnerlicht, als die dargestellte Meinung, dass Leiden eine Strafe Gottes für die Betroffenen sei. Jesus selbst hat sich mehrmals dieser Sicht der Menschen seiner Umgebung entgegengestellt. Und er hat das Leid bis zum Tod ausgehalten. Und diese Erfahrung und dieses Wissen um die Tiefe seines Leidens ist für mich die Gewissheit, nicht allein zu sein mit meinem Schmerz.

    • Liebe Gabriele, das ist richtig: Jesus liebte die Leidenden und die Sünder. Aber wie so oft wurde diese radikale Idee vom System (der Kirche) pervertiert und geradezu in ihr Gegenteil gekehrt. Ich beziehe mich hier auf Nietzsches Kritik der christlichen Moral und meine eigene Erfahrung (Frömmigkeit auf dem Dorfe). In einer Parabel von Dostojewski kommt Jesus zurück und die Kirche wirft ihn erst mal in den Kerker.

  4. Warum möchte Alexandra ihre Schöpfungskraft aus dem Leid ziehen? Und was stört sie daran, dass ihre Persönlichkeit zerstört wurde/würde? Eine Zerstörung kann ja auch ein sehr schöpferischer Akt sein/werden und gebe den Anlass, eine Persönlichkeit zu erschaffen, die ausreichend Kraft aus anderem schöpft. (Glück, (Nächsten)liebe Neugier,…)

    Des Weiteren stimmt es nicht, dass „die Natur“ oder die Evolution „etwas“ von uns will, und schon gar nicht, dass wir uns weiterentwickeln. Wie könnte sie auch? Und woher weiß die Natur oder wir, was evolutionär weiter ist? (Sollen wir Gott werden?) So zu denken ist meiner Ansicht nach nur Ausdruck der narzisstischen Überhöhung des Menschen. Die Natur will von uns dasselbe wie von einer Ameise, einem Fliegenpilz, Seegurke oder einem Stein. Nämlich unsere existentes. Was, wenn überhaupt, nur durch Anpassung an die Umstände gelingt. Denn was die Natur (Ökosystem) „will“ (notwendig bedingt), ist Existenz und Stabilität. Sie will also von uns, dass wir mit unserer Existenz zu ihrer Existenz beitragen. Mehr nicht.

  5. Ach und Schulen müssen ein sicherer Ort / Schutzräume sein! Das muss unser Anspruch sein. Schön, wenn das in Familien der Fall ist, aber in Familien haben wir als Gesellschaft und Staat nicht volle Einsicht. Schulen müssen auch deshalb sichere Ort sein, weil nur so gut (voneinander) gelernt werden kann. Kinder dürfen und können nicht auf leidvolle Erfahrungen „trainiert“ werden. Ganz im Gegenteil ist es ja so das wir die meisten von uns die größten Leid-erfahrungen schon in den ersten Lebensjahren gemacht haben (Traumatische Erlebnisse durch die Geburt, vernichtende Gefühle des dem Tod ausgeliefert sein, da man als Kleinkind allein mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen gelassen wurde, soziale Ausgrenzung durch nicht Beachtung, fehlende Anerkennung des Wunschs nach Aufmerksamkeit,…) und damals noch gut damit umgehen konnten, indem wir unserem Leid vollem Ausdruck verliehen haben. Kindern wird aber der gute Umgang damit ausgetrieben. Stattdessen sollen sie ihre Gefühle unterdrücken, um sich abgehärtet und widerstandsfähig zu zeigen. Ich glaube als Erwachsenen sind wir durch diesen tiefen und nicht erlaubten Schmerz so verbittert, dass wir ihn unreflektiert an unseren Kindern ausleben und „wollen“, dass sie es genauso schlecht haben wie wir.

  6. Hallo,
    finde Alexandras Perspektive spannend, weil sie sich von meiner stark unterscheidet.

    Es gibt unterschiedliche Arten von Leiden. Mir fallen durchaus Beispiele ein, aus denen man etwas ziehen kann, das betrifft aber auch eher ein temporäres Leiden. Das wäre akut paar Tage krank sein, dann ist die Freude um so größer, wenn man wieder aufstehen und raus kann. Oder wenn man auf einer stundenlangen Wanderung im Sommer in der heißen Sonne unterwegs ist, dann bekommen Kleinigkeit so viel Wert (wie lecker ein einfacher Apfel sein kann; wie man sich auf eine Dusche freut, etc.)

    Aber gerade das Thema Depressionen und fortwährende Anhedonie sind in meiner Brille einfach scheiße und unnötig. Wenn die Phasen zu stark sind und mich überkommen, ziehe ich da nichts draus.. In solchen Phasen bin ich gelähmt und nicht kreativ. Wenn ich nur die Decke anstarren kann, habe ich keine Kreativität, keine frischen Idee. Wenn alles leer und grau ist, bin auch ich das, dann bin ich nur eine leere Hülle und fühle mich kaum wie ein Mensch.
    Gerade deshalb bin ich immer sehr sehr skeptisch, wenn jemand Leid „verklärt“ oder „glorifiziert“, weil es Arten davon gibt, wo es nichts Positives draus zu ziehen gibt.

    (Natürlich ist dies meine Erfahrung, meine Sicht, ich möchte niemand seine/ihre absprechen!)
    Liebe Grüße,
    Jan

    • Hallo Jan, ich würde nicht sagen, dass ich das Leiden „glorifiziere“ (obwohl der Verdacht natürlich nahe liegt, so lieb wie ich Nietzsche und Schopenhauer immer hatte). Tatsächlich hätte ich gerne noch erwähnt, dass es auch für mich zwei Arten von Leid gibt: Die Trauer, wenn jemand stirbt, die Scham die man spürt, wenn man eine Grenze übertreten hat, die Traurigkeit über eine enttäuschte Hoffnung, die Wut über Ungerechtigkeit, durchaus auch die Sehnsucht nach etwas Unerreichbaren, etc. Das sind alles Formen des Leidens, die einen Sinn und Zweck haben und auch einen Übergangscharakter, oder wenigstens eine große transformative Kraft oder ein Potenzial, in etwas Schöpferisches überführt zu werden (wie etwa in der Melancholie). Daneben gibt es aber auch Formen des Leidens die auf einer verzerrten Wahrnehmung beruhen (wie Minderwertigkeitskomplexe oder richtig fiese Selbstzweifel, anerzogene Angst, oder das Bedürfnis alles unter Kontrolle haben zu müssen) oder eben Dinge wie Depressionen, denen man keinerlei Erhabenheit abgewinnen kann. Trotz allem muss ich sagen, dass selbst diese Leiden, die ich heute als pure Zeitverschwendung oder Zeitraub empfinde, dazu beigetragen haben, dass ich mich und meine Bedürfnisse besser verstehe. Sicher ist es zynisch, einem Krebskranken zu dieser „Chance“ zu gratulieren, aber dass jemand auch ein solches Leiden gut in sein Leben integriert bekommt, ist durchaus denkbar. Der von mir so verehrte Karl Jaspers hatte übrigens zeitlebens mit schwerer Krankheit zu kämpfen, und dieses Leiden wurde zur Quelle seiner Philosophie.

  7. Hallo Alexandra,
    deine Erfahrung über den „Verlust“ oder die „Aushöhlung“ deiner Persönlichkeit durch das Herunterfahren des Egos fand ich total spannend, da ich eine ähnliche Erfahrung auch gemacht habe und mich bisher sehr allein damit fühle. Auch ich habe mein Ego heruntergefahren um die vermeindliche Provokation von Neid zu verhindern. Das Resultat waren leider nicht mehr Freunde und Geborgenheit. Eher ist mir mein Instinkt und meine Persönlichkeit etwas abhanden gekommen und sehr viel Unsicherheit entstanden. Diese Aushöhlung bedauere ich und kriege sie auch nicht mit Positivismus oder Achtsamkeit in den Griff. Bisher. Mir meine Lust an meinem Wesen und Leistungen wiederzuholen ist garnicht so einfach. Aber der Wunsch zur Veränderung ist da und wurde in beiden Fällen durch einen Leidensdruck ausgelöst.

    • Danke für deine Erfahrung, liebe Lisa! Es tut gut zu lesen, dass es nicht nur mir so geht. Wir entwickeln oder entdecken im Laufe unseres Lebens durchaus „ungesunde“ Coping-Strategien (z.B. Minderwertigkeitskomplexe durch Perfektionismus ausgleichen wollen), aber das bedeutet nicht, dass der einzige Weg zur geistigen Gesundheit darin besteht, diese Dinge aufzugeben oder durch etwas „wohltuend weiches“ zu ersetzen. Ich habe mittlerweile verstanden, was Akzeptanz in diesem Fall bedeuten kann, nämlich zu sagen: „Ja, so hat das Leben mich eben gemacht. Diese Stacheln nenne ich mein eigen!“ Nicht resignativ, nicht trotzig, nicht veränderungsresistent, sondern verstehend und grundsätzlich bejahend. Das gibt mir die Freiheit, ein bisschen Unkraut auszurupfen, aber im Kern doch ich selbst zu bleiben. Natürlich leichter gesagt als getan. :-/

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