Anekdotisch Evident

Kultur und Wissenschaft durchs Prisma der Plauderei

Freiheit

| 13 Kommentare

Tun was man will, niemandem verpflichtet sein, sich nicht knechten lassen von Systemen, Regeln, Normen — diese Vorstellung von Freiheit ist tief in uns verankert. Wer von Freiheit spricht, meint oft Selbstverwirklichung unter Ablehnung gesellschaftlicher Erwartungen.

Aber kann eine so verstandene Freiheit funktionieren? Sind die Dinge, von denen wir uns frei machen wollen, nicht vielmehr die Bedingung unserer Freiheit? In dieser Folge stellen wir den Freiheitsbegriff infrage, sprechen über Verantwortung, Abgründe und den Unterschied zwischen empfundener und realer Freiheit. 

Shownotes:

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13 Kommentare

  1. Das war eine sehr spannende Episode! Mir geht es auch so, dass Freiheit immer komplizierter zu definieren wird, umso älter ich werde, und es immer mehr Konflikte in mir gibt, was gute Freiheit ist und was nicht, da ja oft auch komplett gegenteiliges als Freiheit gesehen werden kann. Der Aspekt, wie man Kindern Freiheit zeigen kann, obwohl man sie kontrollieren muss, hat mich sehr zum Nachdenken gebracht.

    Ich habe jedoch ziemlich geschluckt, als Alexandra den Podcast „The Witch Trials of JK Rowling“ empfahl und über ihre etwas unhinterfragt wirkende Erfahrung über die Angst von Schülerinnen und Schülern, ihre Meinungen zu sagen, erzählte.

    Natalie Wynn, die zu Gast in diesem Podcast war und diese Entscheidung bereut, hat vor kurzem ein sehr gutes Videoessay dazu veröffentlicht: https://www.youtube.com/watch?v=EmT0i0xG6zg

    Ich bin außerdem der Meinung, dass Leute, die nicht in der Öffentlichkeit auftreten und deren finanzielles Auskommen nicht an der Gunst des Publikums hängt, von heftiger öffentlicher Kritik (also dieser sog. „Cancel Culture“) nicht bedroht sind.

    Dass normale Schülerinnen und Schüler wie von Alexandra berichtet trotzdem Angst davor haben, „gecancelt“ zu werden, sollte nicht als ein Hinweis für eine Gefahr für die Redefreiheit genommen werden, sondern eher für problematischen und uneingeordneten Medienkonsum. Denn dadurch, dass Menschen mit Öffentlichkeit bei oft tatsächlich ziemlich üblen Fehltritten massenhafter und – ihrem Empfinden nach – übermäßig harscher Kritik ausgesetzt sind und darüber senden, kommt es bei vielen im Publikum zu dem Eindruck, dass jeder noch so kleinste Ausrutscher zu einem Sturm der Entrüstung führen kann. Das ist offenbar auch eine Strategie, denn „Ich hab‘ nix wronges gemaket und wurde gecancelt und gehexenverfolgt, passt auf euch auf, denn das kann jedem von euch passieren!“ funktioniert leider sehr gut.

    Auf der anderen Seite kann ich natürlich verstehen, dass man sich als jemand in der Öffentlichkeit weniger offen äußern möchte, als früher, da es nun direkte Rückkanäle in Form von Social Media gibt, durch die spontanes Antworten sehr einfach ist und nachträgliches Korrigieren falsch verstandener Aussagen leider sehr schwer. Die Sofortigkeit dieser Kanäle sorgt außerdem dafür, dass Reaktionsimpulse durch naive Mustererkennung (wie „die ist weiß und hat Wursthaare, das ist Rassismus!“) sehr oft umgesetzt werden und viele Kommentare nicht wirklich durchdacht sind. Und durch die tatsächliche und steigende Bedrohung durch rechte Ideologien, deren reale Auswirkungen und die Erfolge konservativer und religiös begründeter Politik werden diese Impulse auch nicht gerade schwächer. Ich sehe das leider auch als sehr schwer lösbares Problem und es sorgt definitiv dafür, dass sich die Fronten verhärten und Meinungen weniger verhandelbar werden.

    Aber die Narrative von zurecht kritisierten Leuten wie Rowling für bare Münze zu nehmen und weiterzuverbreiten, macht es wirklich eher schlimmer als besser.

    Ich hoffe, dass dieser Kommentar nicht übermäßig negativ ankommt, ich mag diesen Podcast und schätze euch sehr, sonst hätte ich ihn gar nicht geschrieben 🙂

    • Hallo Paul,

      vielen Dank für deine differenzierte Sichtweise! Ich habe mir das aktuelle Video von Natalie Wynn angeschaut und stimme allen ihren Kritikpunkten zu.

      – Ja, den Podcast als “Witchhunt” zu framen ist reißerisch, tendenziös (to say the least) und lässt (zumindest auf den ersten Blick) keine andere Sichtweise zu, als dass JKR Opfer eines irrationalen Diskurses wurde.
      – Ja, die Verwendung von Samples extremer Ausraster radikaler Aktivisten ist unfair und vermittelt tatsächlich das Zerrbild eines “wütenden Mobs” (ähnliche Darstellungen kenne ich aus der antiislamischen Propaganda).
      – Ja, Das Storytelling ist meisterhaft in der Führung (gleich in der ersten Folge Empathie für den Charakter JKR schaffen – eigene Leidensgeschichte, beloved author, etc.)

      … und einige Punkte mehr, die es fraglich erscheinen lassen, ob das hier tatsächlich ein gleichberechtigter Dialog widerstreitender Positionen ist oder ob vielmehr sehr geschickt die intellektuelle Überlegenheit der von der Podcast-Autorin vertretenen Position Schritt für Schritt entfaltet werden soll. Nach dem Video hätte ich jedenfalls lieber ein echtes Gespräch zwischen Natalie und JKR gehört – bzw. eine intellektuell redliche und dabei emotionale Faktoren anerkennende Konfrontation der Argumente (ohne Schutz eines Mediators und für mich auch gern ohne “gregorian chant”).

      Warum ich den Podcast trotzdem mit Gewinn gehört habe und weiterhin auch empfehlen und zumindest nicht davon abraten würde:

      – Er gibt der Verwunderung und Irritation vieler Menschen über den Fall JKR Ausdruck. (Ich spreche von “normalen” Menschen, die man beim Einkaufen trifft, bzw. den 95%, die Twitter nie genutzt haben, von links-intellektuellen Diskursen wenig mitbekommen und in deren Leben das Thema “trans” schlicht keine Rolle spielt.) Dass Meinungen und Empfindungen, die echte Menschen tatsächlich haben (z.B. dass JKR nichts falsch gemacht hat), auch vertreten und medial geäußert werden, ist Demokratie. Und “Narrative” benutzen wir alle, mal mehr, mal weniger bewusst. Auch ich gehöre zu denen, die den Fall völlig bescheuert fanden, aber der Podcast hat mich keineswegs gegen die Trans-Community aufgebracht. Im Gegenteil: ich wurde neugierig auf die Gegenposition, habe zum ersten Mal Empathie mit den Menschen verspürt, die sich von Rowling persönlich angegriffen gefühlt haben und mein Bewusstsein für die Nuancen der Problematik ist gewachsen. Dazu hat beigetragen, dass ich mit dem Podcast erstmal gut “mitgehen” konnte, dass er mich in meinen Empfindungen bestätigt hat – und mich dann erst mit der Gegenseite nicht konfrontiert, sondern vertraut gemacht hat. Das war kein “Ich dreh dir jetzt das Messer im Bauch um”, kein Plot Twist mit der Botschaft “Der Gute war immer schon der Böse und du bist der Gelackmeierte!” (was sich so mancher wohl gewünscht hätte!) – und genau das hat für mich eine gute Basis geschaffen, um mich auf die Gegenseite überhaupt einlassen zu können. Und darum geht es uns doch: ins Gespräch kommen miteinander, ohne im Anderen den Feind zu sehen bzw. jemanden, der in erster Linie meine Identität bedroht und meinen gesunden Menschenverstand beleidigt.

      – Vieles, was im Podcast über die Mechanismen von Radikalisierung, das Entstehen und Fortbestehen von Gut-Böse-Narrativen geäußert wird, ist richtig, wichtig und wahr. Völlig unabhängig vom hier diskutierten Thema. Die Hauptbotschaft lautet: Wir kriegen es meistens nicht mit, wenn wir irren. Und ich behaupte, dass genau DAS hängen bleibt, wenn man nicht persönlich von der Thematik betroffen ist und einen ganz anderen Fokus hat.

      – JKR kann man viel vorwerfen, aber nicht, dass sie keine integre Persönlichkeit sei. Sie vertritt ihre Positionen deutlich und klar und lässt sich nicht einschüchtern, gibt nicht klein bei, solange die Sache sich für sie darstellt wie “2+2=5”. Das ist ihr gutes Recht. Inwieweit ihre Argumente valide sind, inwieweit sie emotional feststeckt in ihrer Perspektive, ist ein anderes Thema. Für mich war es jedenfalls inspirierend zu hören, wie jemand seinen Standpunkt schlüssig vertritt und verteidigt, ohne sich in jedem zweiten Satz dafür zu entschuldigen.

      Was mich wurmt, ist die pauschale Ablehnung des Podcasts durch linke Opinion Pieces (“habe den Podcast nicht gehört”, “hab nur bis Folge 3 geschafft”, “werde den Podcast nicht hören…” etc.) sowie das emotionale Shaming durch Äußerung von Bauchschmerzen / Zahnschmerzen / Schlucken müssen etc. von Leuten, die den Argumenten von persona non grata XY durchaus folgen können. Ich behaupte, dass es den meisten ein Graus ist, mit seinen ehrlichen Meinungsäußerungen in seinem Gegenüber solche Gefühle auszulösen. Denn in der emotionalen (oder emotional ausgedrückten) Reaktion steckt der Vorwurf moralischer Verderbtheit und damit die Botschaft: “Wenn du so etwas gut findest, bist du ein schlechter (oder dummer, unreflektierter) Mensch.” Gerade das trägt zu dem “Klima” bei, von dem ich spreche. Bevor ich zum Unmenschen werde, behalte ich meine Gedanken dann doch lieber für mich. Aber ob das zu einem offenen, ehrlichen, bereichernden Dialog beiträgt?

      • Danke Alexandra für die Klarstellung, ich war auch sehr verwundert über das Lob an den Podcast, der anklang. Ich hatte Contrapoints vorher schon gehört.
        Ich will hier nicht lange ins Detail gehen, weil diese Diskussionen ja zu nichts führt (ich halte mich dabei an Wynn: wenn Menschen gegen die Menschlichkeit sind, dann kann man sie nicht argumentativ nicht widerlegen, man muss sie besiegen).
        Ich möchte nur kurz darauf eingehen, warum wir linksgrünversifften Trans-Allys nicht diesen Podcast hören können. Vielleicht bist du als Sozialwissenschaftlerin sehr gut darin, die Argumente zu verfolgen und die Argumente neutral als das was sie sind abzuwägen: Sprache mit Inhalt, die einen Ziel dient. Vielleicht haste du das in deinem Studien oft getan.
        Ich bin harmlose Biologin mit Fokus auf Medizin. Ich sehe die Fakten, die Natur, die Menschen schafft, deren Gehirn einfach anders gestrickt ist. Was eine normale Facette der Geschlechtsverteilung ist. Und ich sehe primär das Leid von trans Menschen, denen diese Natürlichkeit ihrer Existenz abgesprochen wird – was in den USA jetzt dazu führt, dass Familien umziehen müssen. Deshalb kann ich es nicht anhören, weil es mich rasend macht – diese Realitätsverweigerung, diese sanften Stimmen die nicht anderes fordern, als dass Menschen sich wider ihrer Natur verhalten sollen, ihr wahres Ich verstecken sollen. Hier helfen keine Argumente, hier hilft auch nicht die Argumentationsweise zu verstehen – denn auf dieser Ebene wird es keinen Diskurs geben können. Und das tut weh. Mir bereitet das wirklich Schmerzen.

      • Da ich mich durch den letzten Absatz angesprochen fühle und bisher nichts gesagt habe:
        Ich habe den Podcast nicht gehört und deswegen vertrete ich dazu auch keine Meinung.
        DASS ich ihn nicht gehört habe, lag daran, dass ich mir beim Durchlesen der Beschreibung recht sicher war, dass ich nichts Neues erfahren würde. Ich hatte mich als ehemaliger Fan recht intensiv mit JKR auseinandergesetzt, habe ihre Argumente konzentriert gelesen und durchdacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es klassische Transfeindlichkeit ist, wie man sie leider im Feminismus an vielen Stellen – im britischen Feminismus aber offenbar noch viel häufiger – findet. Dabei verlässt Rowling die Position der rationalen Argumente und handelt aus einer Angst heraus. Diese Angst wird absichtlich geschürt und ist Anknüpfungspunkt für viele Forderungen klassischer Feminismen, die vor allem auf Schutzräume für Frauen setzen, auf Schutz vor männlicher Gewalt. Wie genau man die Angst vor männlicher Gewalt und ggf. vergangenes Trauma bewusst schürt – das hat finde ich niemand so gut aufgedröselt wie Caelan Conrad, der sich für seine Recherche monatelang in transfeindlichen Facebook-Gruppen herumgetrieben hat: https://www.youtube.com/watch?v=pwI6py78gsI&list=PLpsOqtfNXxWkelepAjkprIPgLa8ixilTq
        Sein Fazit: „Gender critical“ zu sein, bzw. eben einfach transfeindlich – das ist eine Bewegung, deren Mechanismen der einer klassischen Sekte gleichen. Und das erklärt auch, warum Menschen wie JKR rationalen Argumenten gegenüber nicht mehr zugänglich sind.
        Dass JKR dann auf Twitter wiederholt wirklich *bösartig* wurde, wenn sie über trans Themen schrieb, hat mir dann gewissermaßen den Rest Fantum genommen, den ich vielleicht noch in mir hatte. Und darum war meine Lust auf den Podcast bei genau Null.
        Als Alex mir dann aber erzählte, dass Natalie Wynn beteiligt sei, horchte ich auf. Weil: Großer Fan!
        Also erwog ich, dem ganzen – wie von Alex gefordert – NOCH eine Chance zu geben (weil wie gesagt: Ich habe mich bereits intensiv mit JKRs Position und Argumenten auseinandergesetzt – und ich kann auch nur empfehlen, das zu tun, weil man sich immer selbst ein Urteil bilden soll – sagt Hannah Arendt). Und alle mir bekannten Leute oder alle, mit denen ich so spreche, tun das auch, nehmen die Sorgen ernst, greifen die Argumente auf. An der Stelle empfehle ich sehr den wunderbaren Text von Leah Oswald: https://leah.is/posts/die-reduktion/
        Nachdem aber dann Paul – und dafür danke! – das wunderbare Video von Natalie Wynn verlinkt hat und ich das dann doch direkt angefangen habe zu schauen, habe ich beschlossen, dabei zu bleiben und den Podcast nicht zu hören. Denn er ist offenbar genau das, was ich erwartet habe und dafür ist mir meine Zeit wirklich inzwischen zu schade. Es gibt da für mich nichts Neues zu lernen. Lieber widme ich meine wenige Zeit Menschen, die in diesem krassen Kulturkampf, der auch und gerde entlang der leicht zu mobilisierenden Transfeindlichkeit geführt wird, jenen zur Seite zu stehen, deren schiere Existenz und Menschenrechte wirklich auf dem Spiel stehen. Siehe USA, aber siehe auch die Probleme selbst der AMPEL-Regierung (sowohl Grüne, als auch FDP hatten das Selbstbestimmungsgesetz in ihren Wahlprogrammen), sich nicht von den sehr lauten Transfeinden irritieren zu lassen und das geplante Gesetz zu verabschieden. „Pick your Battles“ – wie es immer so schön heißt, auch und gerade, weil unsere Energie und Zeit knappe Ressourcen sind.
        Und weil wir viele der Argumente auch im Lila Podcast besprochen haben, empfehle ich diesen an der Stelle ausdrücklich: https://lila-podcast.de/trans-sein-und-feminismus-hintergrund-und-diskussion-zum-selbstbestimmungsgesetz-mit-tessa-ganserer-katja-husen-hagen-loewenberg-und-leah-oswald/ darin kommt neben Leah Oswald und dem Psychologen Hagen Löwenberg auch die großartige und leider inzwischen verstorbene Biologin Katja Husen zu Wort.

        • huhu, ich hab deinen Kommentar erst jetzt gelesen und hoffe du meintest nicht dass ich mich auf EUREN Podcast beziehe.
          ihr seid toll. ich bezog mich allein auf diese witch trials. ich denke auch ich verstehe was Alex meint: Argumente verstehen und nachvollziehen heißt nicht Zustimmung oder anerkennen. aber die Trennung gelingt uns nicht allen.
          diesem sekten-tum stimme ich voll und ganz zu.
          liebe kadda, ganz ausdrücklich weil man es ja viel zu selten sagt: danke dir für deinen klaren Stand bei Trans-Rechten und für deine tollen tollen podcasts.

    • Lieber Paul,

      du schreibst

      „Aber die Narrative von zurecht kritisierten Leuten wie Rowling für bare Münze zu nehmen und weiterzuverbreiten, macht es wirklich eher schlimmer als besser“

      und darauf möchte ich kurz eingehen, denn die Welt, in der wir alle leben, ist meines Erachtens viel zu komplex, als dass man das strenge Wörtchen „zurecht“ in solchen Sätzen voreilig verwenden könnte. Und zwar ganz unabhängig davon, auf welcher Seite man in der Streitfrage steht. Denn der Diskurs ist schlicht und einfach noch lange nicht zu Ende geführt – so traurig und wenig zufriedenstellend das auch für all diejenigen sein mag, die sich in ihrer Freizeit daran beteiligen.

      Wenn du beim Bäcker beobachtest, wie eine Frau vor dir in der Schlange drauf und dran ist, mehrere Stücke Bienenstich zu kaufen, obwohl du persönlich die Bienenstichrezeptur als unzulässig erkannt hast, musst du dann auch „ziemlich schlucken“? Wirst du ihr dann auch hinterherlaufen und sie freundlich, aber doch recht belehrend darauf hinweisen, dass das jetzt schon eine eher „problematische“ Kuchensorte war, die sie da womöglich als neues „Narrativ“ in der Kuchenerzählung ihres Familienkreises weiterverbreiten wird?
      Und worauf wäre ihr Fehlverhalten denn zurückzuführen – wer hat hierbei als „einordnende“ Instanz versagt, als die Frau sich „unhinterfragt“ für den Bienenstich entschied: War es wirklich ihr „problematischer“ Medienkonsum?
      Und wie würde diese Frau sich nach deiner Konfrontation wohl fühlen? Hätte sie – ungeachtet dessen, dass sie sich letztendlich sowieso nicht davon abbringen ließ, den Bienenstich mit nach Hause zu nehmen – womöglich das Gefühl, dass versucht wurde, sie in ihrer freien Wahl beim Kuchenkauf zu beschränken? Oder dürfen wirklich nur im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehende Personen den Eindruck gewinnen, dass sie nach Manier einer Fräulein Prusseliese gnadenlos auf den aktuellen Stand der Sittsamkeit hin kontrolliert werden?

      Was für ein schiefer Vergleich! Was hat ein Bienenstich mit J.K. Rowling* gemein? Das eine ist schließlich Ergebnis einer trivialen Alltagsentscheidung im Backwarensegment, die andere mutmaßliche TERF mit viel Einfluss.

      Aber genau diese empörende Verkürzung ist der Kern, um den es sich hier dreht: Als nicht direkt vom Problemthema betroffene Person sind beides nur Geschmacks- und letztendlich also Glaubensfragen. Und über solche kann per se nicht pauschal geurteilt werden, weil die Geschichte hinter jedem Meinungsfindungsprozess nie eine eindeutig nachvollziehbare oder gar wiederholbare ist.

      Der Kuchenvergleich soll herausstellen, mit welcher Überheblichkeit und mit welchen leeren Platzhalterfloskeln dieser Konflikt, wie so viele unserer Zeit, ausgetragen wird:
      Paul, es geht dich schlicht nichts an, in welches Kuchenstück die Frau ihre Gabel rammt, wenn du dir nicht vorwerfen lassen möchtest, eine Agenda zu haben. Du musst sie selbst herausfinden lassen, ob der Bienenstich ihr schmeckt oder nicht.
      Und genauso wenig bist du in der moralischen Position, allgemeingültig zu werten, welchen Inhalts die Podcasts sind, die Alexandra empfiehlt.
      Du magst zwar eine MEINUNG dazu haben – aber es steht dir nicht zu, diese Meinung als breit akzeptiert vorauszusetzen.
      Du magst zwar UNZUFRIEDEN sein mit dem Erlebnis, dem du in der Bäckerei respektive mit dem Anhören der Folge Anekdotisch Evident ausgesetzt warst – aber du kannst nicht so tun, als gäbe es eine bereits durch alle gesellschaftlichen Instanzen fertig verhandelte, allgemeingültige Wirklichkeit, auf die du dich zur geflissentlichen „Einordnung“ von Richtig oder Falsch berufen könntest.

      Dieser Verhandlungsprozess ist unendlich mühsam, und schlimmer noch, er ist es bei jedem Streitthema aufs Neue. Aber wir müssen tatsächlich jedes einzelne Mal alle zuerst da durch, es müssen zuerst alle „mitgenommen werden“, bevor tatsächlich mit der von dir wie auch von vielen anderen an den Tag gelegten overconfidence darüber geurteilt werden kann, ob sich mal wieder „falsch“ oder „richtig“ verhalten wurde. Denn genau diese oft so überheblich wirkende Form ist es, die Öl ins Feuer all derer gießt, die sich in ihrem Denken bevormundet sehen. Und diese Form schadet der Linken wie ein Schwelbrand vielleicht sogar weit mehr als die diskutierten Inhalte, die so explosiv bzw. debattierwürdig ja eigentlich gar nicht wären.

      Sich einer reflexhaften, in tausendfacher Social-Media-Wiederholung einstudierten Entrüstung und automatischer Ablehnung all dessen hinzugeben, das nicht dem eigenen Meinungsbild entspricht, bringt uns jedenfalls kein Stück weiter.
      Stattdessen böte sich doch immer wieder die Chance auf Bereicherung, wie z.B. sich hier die empfohlene Sendung selbst anzuhören, selbst zu verarbeiten und hinterher in der eigenen Meinungsfindung vielleicht ein Stückchen diversifiziert worden zu sein – oder auch nicht, denn das Risiko, sich doch nur blankem Stumpfsinn ausgesetzt zu haben, besteht freilich immer.
      Dass aber schon der Aufruf dazu (wie hier mit Verweis auf „Schlucken müssen“, aber auch an anderer Stelle hat oft jemand „Zahnschmerzen“ oder „Bauchweh“) am liebsten unterdrückt werden würde, stimmt mich mit einem Augenrollen tatsächlich besorgt und je nach Tagesform auch wütend.

      * Ich bin mir nicht zu schade, ihre Initialien zu nennen. Wir sprechen ja auch nicht respektlos von „Leuten wie der Rönicke“ oder „der Tobor“.

      • Ich finde die Diskussion ebenfalls spannend. Um meine Meinung dazu knapp einzuordnen: Ich gehe eher mit Paul d’accord, aber möchte Alexandras Gründe, den Podcast trotz bekannter Kritikpunkte zu hören, natürlich nicht absprechen. Genau diese Gründe sind meiner Ansicht nach ein gutes Beispiel für das zugrundeliegende Problem: Eine differenzierte Sichtweise erfordert ausführlichere Erklärungen, um dem vermeintlichen Schwarz-Weiß-Denken des Gegenübers / „des Internets“ entgegenzuwirken. Könnte ich wie Alexandra mehr aus dem Podcast „The Witch Trials of J.K. Rowling“ ziehen, würde ich ihn aufgrund der bekannten Kritikpunkte dennoch nicht öffentlich ohne diese Erklärungen empfehlen. (Damit möchte ihr explizit nichts vorschreiben – agree to disagree.)

        Ich konsumiere bisweilen selbst Inhalte einiger „problematischer“ Persönlichkeiten (ohne sie finanziell zu unterstützen) oder habe das in der Vergangenheit getan, bei anderen mache ich das gezielt nicht. Solche Inhalte empfehle ich höchstens im Freundeskreis – also bei Personen, von denen ich weiß, dass sie dadurch nicht direkt meinen moralischen Kompass in Frage stellen. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, mich dadurch einzuschränken oder nicht mehr öffentlich meine Meinung äußern zu dürfen. (Bei Rowling kommt die Problematik hinzu, dass man Kunst von Künstlerin selten derart schlecht trennen konnte.)

        Alexandra störte sich an zwei Punkten, auf die ich kurz eingehen möchte:

        1. Die vollständige/teilweise Ablehnung des Podcasts: Vielleicht war das in der Formulierung ein wenig vermischt, aber mir erschließt sich nicht, weshalb man den Podcast nicht ablehnen oder abbrechen sollte. Der gewonnene Mehrwert kann wie beschrieben sehr unterschiedlich ausfallen.

        2. Das emotionale Shaming: Ja, schwierig. Alexandras Argumentation ließe sich in anderen Ecken des Internets sehr schnell als ein „man darf ja nichts mehr sagen“ abtun und würde ihr Unrecht tun. Ihre durch Formulierungen wie „Bauchschmerzen bekommen“ oder „Schlucken müssen“ erzeugten negativen Gefühle möchte ich keinesfalls als unzulässig bezeichnen und halte auch nichts von den oftmals gehörten Forderungen, sich einfach ein dickeres Fell anlegen zu müssen. Allerdings gilt das für beide Seiten – was ist, wenn beim Gegenüber genau diese Gefühle ausgelöst wurden? Das klingt vielleicht sarkastisch, ist aber nicht so gemeint: Sollen Hörer*innen nicht ehrlich ihre Gefühle/Gedanen äußern, weil die Möglichkeit besteht, bei den Podcaster*innen negative Gefühle auszulösen? Wir reden hier ja zumal von einem sehr zivilisierten Dialog, zu dem eingeladen wird. Mich würde hier interessieren, ob andere Formulierungen gefunden werden müssen und welche besser für beide Seiten sein könnten.

        Beim Kuchenvergleich von Magdalena habe ich starke Probleme zu folgen. Den Verfasser einer Hörerkritik in eine Analogie einzubauen, in der dieser übergriffig gegenüber Frauen in der Bäckerei ist, muss man wirklich erst einmal hinbekommen.

        Welche Personen sind vom „Problemthema“ betroffen und welche nicht? Wodurch ergibt sich die Folgerung, dass die komplette Thematik für alle anderen eine Glaubensfrage sei? Über welchen Glauben genau reden wir hier?

        „Dass aber schon der Aufruf dazu […] am liebsten unterdrückt werden würde“

        Das ist reine Mutmaßung und ein merkwürdiges Framing. Paul schrieb, dass er bei der Empfehlung schlucken musste – nicht mehr und nicht weniger. Ich lese aus seinem Kommentar heraus, dass der Themenabschnitt im Podcast auf ihn „unhinterfragt wirk[te]“ und Alexandra lieferte nun Kontext zu den Gründen ihrer Empfehlung.

        „Ich bin mir nicht zu schade, ihre Initialien zu nennen. Wir sprechen ja auch nicht respektlos von „Leuten wie der Rönicke“ oder „der Tobor“.“

        Dass man der Ansicht sein kann, es wäre plötzlich unhöflich, in der deutschen Sprache über Personen mit ihrem Nachnamen zu sprechen (?) und dann auch noch eigens darauf hinweisen muss, dass man einer (übrigens zurecht kritisierten) transfeindlichen Multimillionärin den angemessenen Respekt zollen möchte, finde ich außerordentlich beachtlich.

  2. Mich würde interessieren, wo Du, Alex, die Solidarisierung mit extrem linken Meinungen denn siehst. Ich habe den Eindruck, dass die Gesellschaft insgesamt in den letzten Jahren konservativer wird. Wohne aber auch auf dem oberbayrischen Land, in fester CSU-Hand.

  3. Hallo Zusammen, leider bin ich zu wenig sprachgewandt um mich selbstsicher in die Diskussion einzuklinken zu können. Tatsächlich auch aus Angst möglicherweise etwas Falsches sagen zu können, denn es sind genau diese Statements wie von Paul, die mich schon seit langem dazu gebracht haben, mich gegenüber anderen (ausser meine ENGSTEN Freunde) nicht mehr oder nicht mehr ehrlich zu äußern. Es geht mir genau wie den Schulmädchen im Podcast. Und das insbesondere im realen Leben, in Social Media schon garnicht. Leider fällt es wohl immer schwerer persönliche Gefühle und Fakten/Argumente im Kopf auseinanderzuhalten. Es gibt sehr unerträgliche Persönlichkeiten, die sehr schlaue Dinge sagen können, dann sind die Dinge nicht plötzlich per se unerträglich und umgekehrt.
    Danke Alexandra, danke Magdalena. Bitte hört nicht auf zu denken und zu sprechen und Moral und Sachlage auseinanderzuhalten.

  4. Unterm Strich glaube ich, dass das Problem, das von Alexandra und anderen als „Cancel Culture“ wahrgenommen wird, eigentlich weniger ein Kulturkampf, denn ein Medienkampf ist.

    Mit den Massenmedien und den noch viel schnelleren sozialen Medien existieren einfach Kommunikationsmittel für die wir Menschen nicht so recht gemacht sind. Wenn wir ehrlich sind verstehen wir doch alle einfach nicht, was passiert, wenn wir etwas im Internet veröffentlichen. Niemand hat ein intuitives Gespür dafür, was es heißt mit 10.000 oder 10 Mio. Menschen gleichzeitig zu reden.

    Wir alle haben dumme Ansichten. JKR hat auch dumme Ansichten. Aber früher war es viel schwieriger diese zu äußern.

    Das Zeitalter der modernen Massenmedien ist gerade einmal 100 Jahre alt. Die sozialen Medien gerade erst mal 10. Wir sind vermutlich erst auf dem Weg die Kulturtechniken zu entwickeln mit dieser Technik umzugehen.

    Und bis dahin würde ich sagen: Man sollte andere Meinung sein. Aber man sollte trotzdem sein gegenüber als ambivalente Person akzeptieren. JKR redet dummes, transfeindliches Zeug. Sind ihre Bücher deswegen Tabu? Ist sie deswegen ein „schlechter“ Mensch (was auch immer das ist)? Nein.

  5. Die Aussage, dass die Europäer in der Zeit der frühen Aufklärung ohne den Einfluss von Außen keine Freiheit denken konnte, kommt mir ein bisschen zu holzschnittartig vor. Dass sie durch Einflüsse von Außen vorangetrieben wurde würde ich gar nicht bezweifeln. Allerdings macht deine Argumentation ja genau den Fehler, den Graeber ausräumen will: Die Vorstellung einer linearen historischen Entwicklung (was übrigens auch kein neuer Gedanke ist, siehe Popper). Es war ja nicht so, dass Europa seit je her im Absolutismus festhing. Es gab immer demokratische und republikanische Gesellschaften in Europa, ob nun die attische Demokratie, die isländische Gesellschaft, Ständeparlamente, die römische oder die venezianische Republik usw..

    Der zentrale Punkt der Aufklärung ist aber, dass man die Staatstheorie aus dem Reich der Mythen gezogen hat und sie angefangen hat, systematisch und wissenschaftlich zu untersuchen und damit für unsere moderne Massengesellschaft so nutzbar zu machen, dass letztlich der ewige Konflikt zwischen individueller und kollektiver Freiheit objektiver ausgetragen werden kann. (Ein Prozess der noch lange nicht zu Ende ist – was man am Versagen des modernen Parlamentarismus und dem aufkommen neuer Ideen, wie den Bürgerräten, gut sehen kann.

  6. „Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen.“
    Zitat von Spinoza

    Das deutet auf die gesellschaftlichen Strukturen, die viele ausblenden oder gar leugnen, die den Habitus des Einzelnen Menschen beeinflussen.

    Buchtipp:
    „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“ von
    Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey.

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